04.09.2023 | Molekularmedizin

Computerbasierte Netzwerke gegen Seltene Erkrankungen

Molekularmediziner:innen der ÖAW konnten gemeinsam mit Kolleg:innen der Max Perutz Labs und der St. Anna Kinderkrebsforschung in der Erforschung Seltener Erkrankungen des Immunsystems wichtige Fortschritte erzielen: Indem sie auf netzwerkbasierte Analysen setzen, gelang es ihnen, rund 200 Seltene Erkrankungen neu zu klassifizieren und Ähnlichkeiten zwischen molekularen Mechanismen von Seltenen Erkrankungen mit Autoimmun- und Autoinflammatorischen Erkrankungen aufzuzeigen.

Netzwerkanalysen helfen bei der Entschlüsselung molekularer Prozesse Seltener Krankheiten. © AdobeStock

Das Visualisieren komplexer Daten mittels Netzwerktechnologien macht oftmals sichtbar, was sonst verborgen bleibt – so auch in der Medizin. Bereits seit mehreren Jahren arbeiten Forscher:innen des CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der St. Anna Kinderkrebsforschung, der Universität Wien und der Max Perutz Labs daran, mithilfe von Netzwerktechnologie ein besseres systemisches, molekulares Verständnis für Seltene Erkrankungen sowie angeborene Immun- und Entzündungserkrankungen zu erlangen. In ihrer neuesten Studien schafften es die Wissenschaftler:innen mittels netzwerkbasierten Analysen, neue molekulare, mechanistische Ähnlichkeiten zwischen Seltenen Erkrankungen des Immunsystems zu identifizieren. Dadurch konnten diese neu klassifiziert werden. Durch Abgleich mit klinischen Daten konnten die Wissenschaftler:innen zeigen, dass Patient:innen mit Erkrankungen innerhalb einer Klassifizierungsgruppe auch auf die gleichen Medikamente ansprachen, wie sie nun im Fachmagazin "Science Advances" schilderten.

Neue Klassifizierung ermöglich zielgenauere Therapien

Für ihre Studie untersuchten die Wissenschaftler:innen rund 200 Seltene Erkrankungen des Immunsystems mit ähnlichen Merkmalen. Die computergestützte Analyse der Protein-Protein-Interaktionen zeigte, dass sich auch die molekularen Mechanismen hinter den Erkrankungen ähnelten. Mithilfe der Auswertungen wurden die Erkrankungen neu klassifiziert und in weiterer Folge berechnet, welche Therapien für die jeweilige Gruppe die besten Ergebnisse erzielen könnten. „Im Vergleich mit existierenden klinischen Daten ermöglicht die neue Klassifizierung der Erkrankungen eine erheblich präzisere Vorhersage von erfolgversprechenden Therapien als die bisherige Vorgehensweise. Die Netzwerkbiologie erlaubt es uns, tiefere Einblicke in die komplexen Mechanismen vom Zwischenspiel zwischen Immunsystem und Krankheit zu gewinnen. Dadurch können wir gezieltere und personalisierte Ansätze für Diagnose und Behandlung entwickeln“, so Kaan Boztug, Molekularmediziner der ÖAW und Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung.

Ähnliche Muster bei Autoimmun- und Autoinflammationskrankheiten

Die Ergebnisse zeigen auch, dass zahlreiche Autoimmun- und Autoinflammatorische Erkrankungen wie Chronischen Darmerkrankungen, Multiple Sklerose, Systemischer Lupus erythematodes oder auch Diabetes Typ 1 eng miteinander verknüpft sind. Julia Guthrie, Erstautorin der Studie von den Max Perutz Labs, erklärt: „Wir konnten eine Gruppe von Schlüsselgenen und ihre Interaktionspartner identifizieren, die für die Homöostase zentral sind. Dieses Netzwerk an Schlüsselgenen nennen wir 'AutoCore'. Bei Autoimmun- und Autoinflammatorische Erkrankungen liegt das 'AutoCore' genau im Zentrum der involvierten Gene. Zudem konnten wir weitere 19 Subgruppen feststellen, die uns Zugang zu einem besseren Verständnis von Homöostase und Dysregulierung des Immunsystems führen sollen.“

Blick auf das große Ganze

Während konservative Ansätze Erkrankungen des Immunsystems häufig den jeweiligen Körperregionen zuordnen und somit separiert betrachten, soll ein systemischer Ansatz ein detaillierteres Bild über zugrunde liegende Mechanismen bieten. Jörg Menche, Forscher an ÖAW, der Universität Wien und den Max Perutz Labs erklärt: „Wir mussten mehr und mehr die konzeptionellen und praktischen Grenzen des traditionellen Paradigmas "ein Gen, eine Krankheit" in der Forschung über Seltene Erkrankungen erkennen. Dies erschwert den Blick auf das komplizierte molekulare Netzwerk, durch das die einzelnen Komponenten des Immunsystems orchestriert werden. Daher haben wir eine Visualisierung in Form eines mehrdimensionalen Netzwerks entwickelt, die alle derzeit bekannten monogenen Immundefekte abbildet, die der Autoimmunität und Autoinflammation zugrunde liegen, sowie deren molekulare Interaktionen. Und wir sehen, wie eng die Gene bei Seltenen Erkrankungen miteinander verknüpft sind.“

Die gewonnenen Daten bieten zudem eine wichtige Basis, um bessere Behandlungsmöglichkeiten für die jeweiligen Gruppen von Erkrankungen zu identifizieren.

 

Auf einen Blick

„AutoCore: network-based definition of the core module of human autoimmunity and autoinflammation“, Science Advances, 2023
DOI: 10.1126/sciadv.adg6375