23.11.2023 | Israel

„Der komplexe Konflikt wird als antikolonialistisch reduziert“

Warum es zu erwarten war, dass mit dem Angriff der Hamas auf Israel eine antisemitische Welle die Welt erschüttern und es an Empathie mit den jüdischen Opfern mangeln würde, erklärt die Antisemitismusforscherin Helga Embacher im Interview.

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wächst der Antisemitismus weltweit. © Shutterstock

Der Krieg in Israel und im Gazastreifen dominiert die politischen Debatten und macht auch vor neuen sozialen Bewegungen nicht Halt. Dass der Konflikt deutlich komplexer ist als zumeist dargestellt, erklärt Historikerin und Antisemitismusforscherin Helga Embacher. Im Interview spricht sie darüber, warum sich manche Linke schwertun, Antisemitismus in Europa zu verurteilen, und wie es sein kann, dass die extremistische Terrororganisation Hamas, die den Staat Israel vernichten will, von nicht wenigen als als Befreiungsbewegung gesehen wird. Auskunft gibt sie auch darüber, wie antisemitisch die österreichische Bevölkerung ist und wie rechte Parteien Antisemitismus instrumentalisieren.

Täter-Opfer-Umkehr

Der radikalislamistischen Hamas hat mit ihren grausamen Angriffen auf israelische Zivilist:innen die antisemitische Stimmung auch im Westen angeheizt. War das zu erwarten?

Helga Embacher: Wirft man einen Blick auf die Konflikte zwischen Israel und den Palästinenser:innen bzw. der Hamas innerhalb der vergangenen 20 Jahre, so ist das keinesfalls erstaunlich, ja es war sogar zu erwarten. Während der Zweiten Intifada (2000 bis etwa 2005), wo Gaza noch der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstand, gingen weltweit Tausende für „Palästina“ auf die Straße. Der Libanonkrieg von 2006 und die Gazakriege von 2009, 2012 und insbesondere 2014 mobilisierten erneut Tausende. In Wien demonstrierten beispielsweise bis zu 30.000 Menschen, viele mit türkischen Wurzeln. Die Slogans und Transparente glichen bereits weitgehend jenen, die derzeit auftauchen, darunter „Kindermörder Israel“, NS-Vergleiche und sogar einzelne Aufrufe zur Ausradierung Israels.

Nach dem barbarischen Terroranschlag der Hamas ist es schnell zu einer Opfer-Täter-Umkehr gekommen.

Die Hamas will den Staat Israel vernichten und einen islamistischen Gottesstaat errichten. Warum halten dennoch einige diese Terrormiliz für eine Befreiungsbewegung?

Embacher: Palästinensische Terroranschläge auf israelische Zivilist:innen galten in den vergangenen Jahrzehnten als berechtigter Widerstand im „Befreiungskampf“ gegen den „israelischen Kolonialismus“. Der komplexe Konflikt wird damit auf einen antikolonialen und antiimperialistischen Kampf gegen das sogenannte Siedler- und Apartheidregime Israel reduziert. Vor allem radikale Linke aber auch Islamisten betrachten die Hamas weiterhin als legitime Widerstandskraft gegen die israelische Besatzungspolitik und für ein „freies Palästina“. Es war somit zu befürchten, dass mit dem barbarischen Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 der Konflikt erneut nach Europa transferiert wird und es schnell zu einer Opfer-Täter-Umkehr kommt. Selbst wenn dieses Mal Israel eine sehr hohe Opferzahl zu verzeichnen hatte, sogar Babys und Frauen bestialisch getötet und entführt wurden, ließen die völlig verhärteten Feindbilder wenig bis keine Empathie mit israelischen Opfern zu. Vielmehr wurde die Vernichtungsabsicht der Hamas als Widerstand im Kampf für ein freies Palästina legitimiert.

Zerrissene Linke

Ein Riss scheint auch durch die neuen sozialen Bewegungen zu gehen. Warum?

Embacher: Für viele überraschend war, dass es auch Teilen der neuen sozialen Bewegungen, wie Black Lives Matter, LGBTQI, der Klimabewegung oder des intersektionalen Feminismus schwerfällt, sich von den Gräueltaten der Hamas klar zu distanzieren und Empathie für israelische Opfer aufzubringen. Für Palästina zu sein ist offensichtlich auch ein Code dafür, auf der richtigen Seite zu stehen und dient einer Identitätspolitik. Das kann eine Bewegung aber auch spalten: Als die internationale Sektion der Protestbewegung Fridays for Future das militärische Vorgehen Israels als einen Genozid an den Palästinenser:innen bezeichnete und den westlichen Medien unterstellte, Falschinformation und Lügen zu verbreiten, distanzierten sich die deutschen und österreichischen Gruppierungen umgehend davon. Auch auf einer Großdemonstration für den Klimaschutz in Amsterdam zeigten sich keineswegs alle mit Greta Thunbergs Solidaritätserklärung für die Palästinenser:innen einverstanden.

Welche Rolle spielt die antizionistische Haltung?

Embacher: Gemeinsam ist radikalen Linken und Islamisten auch ein radikaler Antizionismus, der Israels Gründungsgeschichte auf die Vertreibung der Palästinenser:innen reduziert und damit dem Staat bereits seit 1948 die Legitimität abspricht. Die Rolle des europäischen Antisemitismus, auf dessen Boden sich der Zionismus ja entwickelt hatte, und selbst der Holocaust, bleiben unerwähnt. Zionismus wird hingegen als schlimmste Form des Rassismus betrachtet, wohingegen Antisemitismus als eine Art Unterkategorie des Rassismus angesehen wird. Da Juden als erfolgreich, privilegiert und somit als weiß gelten, wird Antisemitismus im Vergleich zur Islamfeindlichkeit als wenig bedrohlich und vernachlässigbar gesehen. Dieses Modell wird auch auf Israel/Palästina übertragen, womit die Israelis als weiß und kolonialistisch und die Palästinenser als „schwarz“ gelten und damit auf eine Opferrolle reduziert werden. Mit der Komplexität des Nahen Ostens und den vielen Akteuren, die dort mitmischen, hat das wenig zu tun.

Gemeinsam ist radikalen Linken und Islamisten ein radikaler Antizionismus.

Dieser radikale Antizionismus führt mitunter dazu, dass Juden und Jüdinnen in der Diaspora dazu aufgefordert werden, sich von Israel zu distanzieren. Antizionistische bzw. israelkritische Juden und Jüdinnen werden wiederum gerne instrumentalisiert, um die eigene Position zu rechtfertigen. Es ist aber auch wichtig zu betonen, dass es innerhalb der Linken durchaus unterschiedliche Positionen gibt und keinesfalls alle Linken Israel das Existenzrecht absprechen.

Rechte Instrumentalisierung

Wie antisemitisch ist die österreichische Bevölkerung?

Embacher: Auch wenn derzeit auf manchen Demonstrationen offen antisemitische Parolen zu hören sind und Übergriffe auf Juden und Jüdinnen sowie jüdische Einrichtungen stark zunehmen, lässt sich daraus das Ausmaß des Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft schwer erfassen. Es fällt zudem schwer, das Ausmaß des Antisemitismus den Sozialen Medien zu überblicken. Auch wenn derzeit der Fokus auf einen „muslimischen Antisemitismus“ und einen „linken Antisemitismus“ liegt, sollte Antisemitismus im rechten und rechtsextremen Spektrum nicht ignoriert werden. Es ist nicht anzunehmen, dass antisemitische Verschwörungserzählungen, die sich mit der Coronapandemie stark verbreitet haben, einfach aus den Köpfen der Menschen verschwunden sind.

Rechtsextreme Parteien versuchen mit „linkem Antisemitismus“ und „muslimischem Antisemitismus“ politisches Kleingeld zu schlagen und heizen damit die Islamfeindlichkeit an.

Inwiefern wird Antisemitismus von rechten Parteien instrumentalisiert?

Embacher: Rechte und rechtsextreme Parteien versuchen mit „linkem Antisemitismus“ und „muslimischem Antisemitismus“ politisches Kleingeld zu schlagen und heizen damit die Islamfeindlichkeit an. Selbst eine Parteinahme für Israel kann mit Antisemitismus einhergehen. Denn: Obwohl sich die FPÖ nach dem Hamas-Terroranschlag auf die Seite Israels stellte, kann nicht darüber hinweggegangen werden, dass sie keinerlei Distanz zur rechtsextremen Bewegung der Identitären zeigt, auf Holocaustrelativierungen zurückgreift und antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet. Die seit 2017 mit der türkis-blauen Koalition zu beobachtende enge Beziehung der ÖVP zu Israel wird von vielen argwöhnisch betrachtet, da die ÖVP unter anderem gleichzeitig bereit war, auf Landesebene mit der rechtsextremen FPÖ Koalitionen einzugehen.

© Privat

 

AUF EINEN BLICK

Helga Embacher ist Professorin für Zeitgeschichte an der Paris-Lodron-Universität Salzburg und forscht zu Antisemitismus an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).