26.04.2024 | Kultureller Schatz

Globales akustisches Kulturerbe

Das Phonogrammarchiv der ÖAW feiert sein 125-jähriges Jubiläum. Als ältestes audiovisuelles Archiv der Welt birgt es zahlreiche Schätze an Forschungsaufnahmen. Phonogrammarchiv-Leiterin Kerstin Klenke gibt Einblicke in Geschichte und Gegenwart des Archivs.

Forscher:innen des Phonogrammarchivs untersuchen ein historisches Speichermedium aus den Beständen des Archivs. © ÖAW/Klaus Pichler

Das Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wurde am 27. April 1899 als wissenschaftliches Schallarchiv gegründet und ist das älteste audiovisuelle Archiv der Welt. Gesammelt wurden von Beginn an sowohl Sprachaufnahmen, darunter auch sogenannte Stimmporträts – zu den in Österreich bekanntesten zählt das von Kaiser Franz Joseph – als auch Aufnahmen von Musik und später auch Tierstimmen. Zum 125-jährigen Jubiläum erklärt Phonogrammarchiv-Leiterin Kerstin Klenke, was es mit dem legendären Burgtheaterdeutsch auf sich hat, wie frühe Aufnahmen gemacht wurden, welche Herausforderungen es bei der Lagerung von historischen Trägermedien gibt und wie man mit Aufnahmen umgeht, die in kolonialen Kontexten entstanden sind.

Akustische Vermessung der Welt

Warum wurde das Phonogrammarchiv gegründet? 

Kerstin Klenke:  1877 hat Thomas Edison den Phonographen entwickelt. Man wollte diese neue Technologie für die Wissenschaft einsetzen. Es ging um nichts Geringeres, als die Welt akustisch zu vermessen, und – in einem frühen Ansatz von open science – Forschungsdaten zur wissenschaftlichen Nachnutzung zu produzieren. Man wollte alle europäischen Sprachen sammeln, die europäischen Dialekte, dann sämtliche Sprachen der Erde. Man wollte Musik archivieren – aus Österreich und aller Welt – und Stimmporträts berühmter Persönlichkeiten. Wir bewahren österreichisches Wissenschaftserbe in Bild und Ton, das zugleich globales immaterielles Kulturerbe ist. Bei uns lagern die frühesten Audiodokumente einiger Sprachen und Kulturtraditionen, teilweise auch von Orten, die inzwischen zerstört wurden. Gerade arbeiten wir an einer Edition von sehr frühen Aufnahmen von Sprachen aus dem Kaukasus.

Es gibt auch Aufzeichnungen von Burgschauspieler:innen. Kann man im Archiv das legendäre Burgtheaterdeutsch im Original hören?

Klenke: Ja, das kann man. Unsere früheste Aufnahme von einem Burgschauspieler stammt von 1901: Josef Lewinsky rezitiert Lessing, Schiller und Goethe. 1906 wurden Stimmporträts von Max Devrient, Josef Altmann und Hugo Thimig aufgezeichnet. Diese und andere Stimmporträts sind bereits in unserer Editionsserie veröffentlicht worden. Seit 1999 sind die sogenannten Historischen Bestände des Phonogrammarchivs, das heißt alle Aufnahmen von 1899 bis 1950, Weltdokumenterbe der UNESCO. Diese Aufnahmen veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Editionsserie, bislang auf CD, in Zukunft in einem Online-Format, um sie leichter zugänglich zu machen. Das ist uns ein großes Anliegen.

Man musste sich gut überlegen, was man aufnimmt.

Wie wurden die frühesten Aufnahmen gemacht?

Klenke: Man reiste mit einem Apparat, der an die 45 Kilogramm gewogen hat. Man konnte nur bis zu zwei Minuten aufnehmen, und brauchte dazu sehr laute Sprecher:innen, um hinterher überhaupt etwas verstehen zu können. Man musste sich gut überlegen, was man aufnimmt. Teilweise hat man den Leuten auch vorgesagt, was sie sprechen sollen. Häufig wurden zu dieser Zeit sogenannte Wachszylinder verwendet. Im Wiener Phongrammarchiv hat man aber eine eigene Aufnahmetechnik entwickelt, man verwendete Wachsplatten, die leichter zu matrizieren waren. Von diesen Platten hat man dann Negative in Metall hergestellt, um davon dann wieder Positive abgießen zu können.

Der Wert von Originalen

Wie gelingt es, das Archiv zu erhalten?

Klenke:  Für unterschiedliche Materialien sind unterschiedliche Bedingungen optimal. Zentral ist aber, ein möglichst konstantes Klima herzustellen. Unser Archivraum hat einen stabilen Mittelwert an Luftfeuchtigkeit und Temperatur, bei denen unterschiedliche Tonträger geschützt bleiben. Aber natürlich haben alle Materialien auch ihre natürlichen Zerfallsprozesse. Deshalb betreiben wir auch Materialforschung. Wir haben Projekte, die sich mit Konservierung und Restaurierung beschäftigen, und untersuchen, wie man degradierte Tonträger wieder spielbar macht. Es fehlen inzwischen oft aber auch die Geräte, um historische Trägermedien abzuspielen. Es gab sowohl im Audio- als auch im Video-Bereich Formate, die es nur kurz auf den Markt geschafft haben. Und selbst für ehemals weit verbreitete Tonträger wie das Magnettonband wird es immer schwieriger, professionelle Gebrauchtgeräte zu finden. Wobei man sagen muss, dass bei digitalen Daten die Gefahr vielleicht am größten ist, dass sie einem abhandenkommen. Viele wissen aus eigener Erfahrung, dass CDs kurzlebiger sind als Schallplatten. Deshalb ist es für uns zentral, immer auch die Originale zu bewahren. Das auch mit Blick auf Materialforschung und technische Innovationen: Es werden sicherlich noch bessere Methoden der Materialanalyse und Signalextraktion entwickelt werden als wir sie heute kennen, und zukünftige Forschungsfragen können wir heute noch nicht antizipieren.

Wir müssen auch die dunklen Seiten der frühen Archivtätigkeit betrachten.

Was sind aktuelle Herausforderungen?

Klenke:  Obwohl wir nur Tonaufnahmen haben, betreffen uns die aktuellen Debatten um Provenienz und Restitution natürlich auch. Viele frühe Aufnahmen wurden in kolonialen Kontexten gemacht. Im ersten Weltkrieg nahm man Kriegsgefangene auf. Dabei sind ethische, aber auch rechtliche Fragen zu klären; wie soll man heute mit solchen Sammlungen umgehen? Wir gehen dieses wichtige Thema gemeinsam mit anderen Institutionen wie dem Weltmuseum an, vor allem aber mit Gemeinschaften und Personen, die seitens der Aufgenommenen einen Bezug zu den Tondokumenten haben. Um diese einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, müssen wir auch die dunklen Seiten der frühen Archivtätigkeit betrachten. Diese wurden viel zu lange nicht aufgearbeitet.

 

Auf einen Blick

Phongrammarchiv der ÖAW