07.05.2024 | Neuronen

Rätsel gelöst: Wie erreicht das menschliche Gehirn seine Größe?

Das menschliche Gehirn enthält weitaus mehr Neuronen als das Gehirn anderer Tiere. Doch wie schaffen wir es, so viele Neuronen zu produzieren? Ein Team von Molekularbiolog:innen der ÖAW zeigte nun, dass sich einige menschliche neuronale Stammzellen über einen viel längeren Zeitraum als erwartet vermehren können und die Vielzahl an Neuronen produzieren. Diese Erkenntnis, die im Fachjournal "Nature Cell Biology" erschienen ist, liefert eine neue Erklärung der einzigartigen Entwicklung unseres menschlichen Gehirns.

Zwei neurale Stammzellklone und ihre Nachkommen (grün) innerhalb einer neuralen Rosette (lila). © Christopher Esk/IMBA

 Das menschliche Gehirn ist wesentlich leistungsfähiger als das anderer Tiere, was sowohl auf die Größe als auch auf die Komplexität des Gehirns zurückzuführen ist: Im Gehirn einer Maus z.B. sind 75 Millionen Neuronen zu finden, im menschlichen Gehirn dagegen bis zu 86.000 Millionen Neuronen. Diese unglaublich große Anzahl von Neuronen ist dafür verantwortlich, dass das menschliche Gehirn über leistungsfähige und hochspezialisierte Gehirnregionen verfügt, die komplexe Aufgaben erfüllen können.
 
Aber wie kann das sich entwickelnde menschliche Gehirn im Vergleich zu anderen Tieren so viele Neuronen erzeugen? Bislang blieb diese Frage unbeantwortet, da es an Modellen fehlte, die die unglaubliche Entwicklung des menschlichen Gehirns nachbilden konnten. Nun konnten Jürgen Knoblich und sein Team am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), zu dem auch Dominik Lindenhofer, Christopher Esk und Jamie Littleboy gehören, zusammen mit Simon Haendeler in Arndt von Haeselers Labor am Zentrum für Integrative Bioinformatik der Universität Wien, diese Frage endlich beantworten. Ihre Ergebnisse erschienen nun im Fachjournal "Nature Cell Biology".

Hirnorganoide ermöglichen Blick in die Gehirnentwicklung

Das Team verwendete Gehirnorganoide, dreidimensionale Modelle, die aus Stammzellen gewonnen werden. An diesen können die Entwicklung des menschlichen Gehirns sowie Vorgänge im menschlichen Gehirn beobachtet und untersucht werden. Die Forscher kombinierten diese Technologie mit der Verfolgung der Abstammung (‚lineage tracing‘): „Wir haben jeder Ausgangsstammzelle einen spezifischen genetischen Barcode hinzugefügt“, erklärt Christopher Esk. „Wenn sich eine Zelle repliziert, erben alle Tochterzellen denselben Strichcode, so dass wir verfolgen können, woher jede Zelle stammt.“ Diese neue Rückverfolgungstechnik ermöglichte eine wichtige Entdeckung: Obwohl alle Stammzellen zum endgültigen Organoid beitrugen, brachten die Stammzellen jeweils unterschiedlich viele Neuronen hervor.
 
„Eine kleine Subpopulation von etwa 5 % der Stammzellen war für die Bildung von bis zu 80 % der endgültigen Neuronen verantwortlich", erklärt Esk. Diese Entdeckung des Teams steht im Widerspruch zu bestehenden Modellen der neuronalen Entwicklung und deutete darauf hin, dass sich manche Stammzellen nicht so verhalten wie andere.
 
Mathematische Modelle helfen beim Entschlüsseln der Gehirnentwicklung
 
Die Wissenschaftler:innen bedienten sich der Mathematik bzw. der computergestützten Biologie, um die Daten besser zu verstehen: Das Team entwarf ein mathematisches Modell zur Berechnung des Teilungsverhaltens der verschiedenen Zelllinien. „Die einzige Erklärung für unsere Daten ist, dass sich im menschlichen Gehirn einige langlebige neuronale Stammzellen viel länger symmetrisch teilen als bisher angenommen", erklärt Simon Haendeler. Die symmetrische Teilung ermöglicht es den Stammzellen, ihre Anzahl zu erhöhen, während die asymmetrische Teilung dazu führt, dass sie sich in Neuronen differenzieren. „Unser Modell zeigt, dass aus den sich langfristig symmetrisch teilenden Stammzellen die meisten neuronalen Populationen im menschlichen Gehirn entstehen", fügt Jamie Littleboy, Doktorand im Labor von Jürgen Knoblich und Koautor der Arbeit, hinzu. „Das ist ein großer Unterschied zu dem, was im Gehirn von Mäusen passiert. Bei Mäusen bleibt die symmetrische Teilung nach den ersten vier oder fünf Tagen der Entwicklung aus."

Wie sich die Gehirnentwicklung bei Defekten und Verletzungen anpasst

Um den Prozess der Neuronenbildung in Gehirnorganoiden besser zu verstehen, beschloss das Team zu untersuchen, was passiert, wenn einige der Ausgangsstammzellen absterben. Interessanterweise beobachteten die Forscher:innen, dass – auch wenn nur sehr wenige neuronale Stammzellen übrigbleiben – diese wenigen Zellen immer noch in der Lage waren, das gesamte Hirngewebe zu bilden. „Bei mindestens 10 % überlebender Zellen werden alle Hirnstrukturen und neuronalen Typen immer noch korrekt gebildet", erklärt Jürgen Knoblich. Die Ergebnisse des Teams verdeutlichen die unglaubliche Widerstandsfähigkeit neuronaler Stammzellen, die aufgrund ihrer Plastizität sogar schwere Wachstumsdefekte kompensieren können.
 
Das Team will nun untersuchen, wie diese Anpassung funktioniert: „Wir wollen herausfinden, wie Zellen erkennen, dass andere Zellen absterben, und welche Kompensationsmechanismen zur Geweberegeneration führen", so Knoblich weiter. Die vom Team entwickelten Techniken schaffen eine neue Grundlage für die Untersuchung der Spezifizierung von Zelltypen in Organoiden. Sie können auch bei Organoiden anderer menschlicher Organe verwendet werden und so die Vorgänge in der Entwicklung verschiedener Organe aufzeigen.

 

Auf einen Blick

Publikation

Dominik Lindenhofer, Simon Haendeler, Christopher Esk, Jamie B. Littleboy, Clarisse Brunet Avalos, Julia Naas, Florian G. Pflug, Eline G. P. van de Ven, Daniel Reumann, Alexandre D. Baffet, Arndt von Haeseler, Jürgen A. Knoblich. Cerebral organoids display dynamic clonal growth and tunable tissue replenishment. Nature Cell Biology
DOI: 10.1038/s41556-024-01412-z

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