23.04.2024 | Welttag des Buches

Stöbern in unschätzbaren Manuskripten

Wissenschalfter:innen der ÖAW machen auf der Onlineplattform manuscripta.at einen der größten kulturellen Schätze Österreichs für die Öffentlichkeit zugänglich: 25.000 mittelalterliche Handschriften werden erschlossen und können oftmals online eingesehen werden. Über die Bedeutung der Manuskripte und ihrer Forschungsarbeit, sprechen ÖAW-Mittelalterforscherinnen Regina Cermann und Maria Stieglecker im Interview.

Am Welttag des Buches werfen wir einen Blick in Österreichs mittelalterliche Handschriften. © Adobe Stock

Von erotischen Gedichten bis Fassungen des Nibelungenlieds: Immer wieder tauchen Schätze an mittelalterlichen Handschriften in Österreichs Bibliotheken auf, die dank der Plattform manuscripta.at auch online eingesehen werden können. Anlässlich des Welttags des Buches erzählen Regina Cermann und Maria Stieglecker vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW im Interview, wie es gelingt, das mittelalterliche handschriftliche Erbe Österreichs abzubilden. 

Digitalisiertes Mittelalter

Worum geht es bei manuscripta.at?

Maria Stieglecker: Die Intention ist, einen kulturellen Schatz Österreichs über ein zentrales Portal für Öffentlichkeit und Forschung zugänglich zu machen. Wir haben im Land rund 25.000 mittelalterliche Handschriften, die in ungefähr 150 Bibliotheken verteilt liegen. Im Projekt manuscripta.at machen wir diese Sammlungen sichtbar und erschließen die Bestände wissenschaftlich. Das ist viel Arbeit, weil die Manuskripte nicht wie moderne Bücher mit Autorennamen, Herausgebern oder Impressum gekennzeichnet sind. Neben der Textidentifizierung wollen wir nach Möglichkeit auch herausfinden, wer sie wann wo geschrieben hat, dabei hilft oftmals auch ein etwaig vorhandender Buchschmuck. Ein anderer Focus liegt darauf, wie ein Kodex an seinen heutigen Aufbewahrungsort gekommen ist. Bei Beachtung der Provenienzgeschichte erhalten wir oftmals einen Spiegel unserer Historie im Kleinen. Zunehmend werden immer mehr Manuskripte digitalisiert, von uns oder den jeweiligen Institutionen, und können über manuscripta.at eingesehen werden. 

Findet sich auch ein Laie in der digitalen Sammlung zurecht?

Regina Cermann: Die meisten Texte sind in Latein oder Mittelhochdeutsch abgefasst, aber es gibt mehrere Möglichkeiten, sich den Handschriften zu nähern. Wer die besitzhaltende Institution und/oder Signatur nicht kennt, kann nach Autoren, Werken oder Textanfängen suchen aber auch zusätzliche Filterungen vornehmen, um sich z.B. nur Ergebnisse einer bestimmten Epoche oder digital verfügbare Kodizes anzeigen zu lassen. Die Bestände sind derzeit noch recht heterogen erschlossen. Die Datenbank ist aber immer ein guter Startpunkt, um Basisinformationen über einen Kodex und Literatur dazu zu erhalten. Unser Bestreben ist es, die Lücken nach und nach zu füllen und die Suchfunktionen immer weiter zu verbessern.

Voll digitalisiert wurden seit Anfang der Zweitausenderjahre etwa 6.000 Manuskripte.

Wie viele Werke sind bereits direkt digital einsehbar?

Maria Stieglecker: Alle 25.000 Codices sind über die Suche auffindbar, mit Angaben über den Aufbewahrungsort und weitere verfügbare Details. Voll digitalisiert wurden seit Anfang der Zweitausenderjahre etwa 6.000 Manuskripte. Allgemeines Ziel ist definitiv, einmal das gesamte mittelalterliche handschriftliche Erbe abzubilden. Dabei erhöht sich das Tempo zunehmend, weil viele Bibliotheken mittlerweile eigene Geräte zur Digitalisierung der Manuskripte angeschafft haben. Bilder allein reichen allerdings nicht aus, um Handschriften zu verstehen. Auch wenn die Digitalisierung unsere Arbeit ungemein erleichtert, bleibt die Erforschung des Inhaltes unser Kernthema, derzeit fokusieren wir innerhalb von Langzeitprojekten unsere Arbeit auf die Bestände in den Stiftsbibliotheken von Klosterneuburg, Melk und Göttweig.

Nibelungenlied und Rosendorn

Welche besonderen Schätze gibt es in der Sammlung zu bestaunen?

Regina Cermann: Das Entdeckungspotenital ist hoch. Überraschungen kann man auch in unscheinbaren Dingen finden. Manuskripte wurden öfters schon im Mittelalter ausgemustert und für Einbände oder zur Verstärkung von Fälzen in Büchern weiterverwendet. Solche Fragmente kann man zusammensuchen und dabei auf echte Überraschungen stoßen: In Melk hat unsere Kollegin Christine Glaßner auf diese Weise einen neuen Textzeugen für das Nibelungenlied gefunden. Derartige Entdeckungen können unsere Vorstellungen vom Mittelalter durchaus verändern: Ebenfalls in Melk kam ein Fragment des erotischen Kurztextes “Der Rosendorn” ans Licht, das aufgrund der Schrift um 1300 datiert wird. Vor diesem Fund gingen Germanist:innen davon aus, dass derartige Texte auf Deutsch erst ab dem 15. Jahrhundert existierten. 

Der Wert einzelner Handschriften kann bei Auktionen schon einmal leicht in die Millionen gehen.

Solche Schätze sind sicher hoch versichert. Muss man bei der Arbeit mit den Originalen besondere Vorkehrungen beachten?

Regina Cermann: Jedes Manuskript ist unersetzbar, da es sich jeweils um ein Unikat handelt. Der Wert einzelner Handschriften kann bei Auktionen schon einmal leicht in die Millionen gehen. Es gibt natürlich besonders empfindliche Objekte, aber an und für sich sind Pergament und das alte Papier sehr robust und einfache Vorsichtsmaßnahmen wie Händewaschen, vorsichtiges Umblättern und kein direktes Berühren von Schrift und Bild sind vollkommen ausreichend. Zudem verwenden wir Schaumstoffkeile, um die Handschriften nicht plan aufzuschlagen und so die Bindung der Manuskripte zu schützen. Auch die Digitalisierung schont die Originale, weil sie ein virtuelles Studium ermöglicht, bei dem sich zwar nicht alle, aber doch ein beachtlicher Teil an Fragen beantworten lässt. 

Handelt es sich bei den Manuskripten hauptsächlich um Kirchentexte?

Regina Cermann: In Österreich haben viele mittelalterliche Bibliotheken in Klöstern überdauert, das bedeutet aber nicht, dass eine jahrhunderte lang dort aufbewahrte Handschrift dort auch zugleich entstanden bzw. für das Kloster bestimmt gewesen sein muss. Im 18. Jahrhundert waren z.B. für kunstsinnige Äbte Handschriften auch Sammelobjekte. Während des Mittelalters vermachten Bürger:innen ungeachtet des Inhalts ihre privaten Bücher Klöstern, um auf diese Weise für ihr Seelenheil beten zu lassen. An sich sind weltliche Sammlungen in ihrem Bestehen über die Jahrhunderte gefährdeter gewesen. Insofern haben wir tatsächlich ein Ungleichgewicht in der Überlieferung. Dennoch spiegeln die Bibliotheken das gesamte Spektrum des mittelalterlichen Wissens, auch wenn theologische Texte sicherlich ungleich stärker vertreten sind. 

Ein Blick in mittelalterliche Handschriften

Wie funktioniert die wissenschaftliche Aufarbeitung der Sammlungen?

Maria Stieglecker: Die Basisinformationen zu den Manuskripten stammen oft noch aus Katalogen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, häufig sind diese nur handschriftlich abgefasst, sie wurden dann von uns digitalisiert und online gestellt. Die Angaben zum Inhalt fallen recht unterschiedlich aus, oft sind sie recht rudimentär. Da steht dann zum Beispiel nur “Theologische Sammelhandschrift”. Diese Informationen werden von uns sukzessive ergänzt, korrigiert und verknüpft. Auch gibt es für ForscherInnen ein Mitteilungsfeld, über das sie uns über aktuelle Forschungen und neue Erkenntnisse informieren können. 

Wird beim Scannen der Manuskripte auch der Inhalt automatisiert analysiert und durchsuchbar gemacht?

Maria Stieglecker: Automatische Texterkennung funktioniert gut für Texte zurück bis ins 19. Jahrhundert. Mittelalterliche Manuskripte sind wegen ihrer unterschiedlichen Schriften viel schwerer für Maschinen lesbar. Um schneller schreiben zu können, wurde auch viel abgekürzt, besonders Fachvokabular. Der digitale Zugang beschränkt sich deshalb derzeit auf die fotografische Wiedergabe der Handschrift. Aber das wird sich ändern, da die verfügbare Technologie laufend verbessert wird.

Mit manuscripta.at wollen wird das über die Jahrhunderte überdauerte handschriftliche mittelalterliche Erbe Österreichs weithin sichtbar machen.

Gibt es in anderen Ländern vergleichbare Projekte?

Regina Cermann: Ja, etwa in Deutschland mit dem handschriftenportal.de oder der Schweiz mit e-codices, wobei die Voraussetzungen in jedem Land ein wenig anders sind. Wie bereits erwähnt wird in Österreich ein großer Teil des handschriftlichen Erbes nach wie vor in Klosterbibliotheken aufbewahrt. Diese wurden in Deutschland dagegen im Zuge der Säkularisation zumeist in staatliche Sammlungen überführt. In Österreich waren zahlreiche Klöster in den Zwischenkriegsjahren aufgrund wirtschaftlicher Not gezwungen, Handschriften ins Ausland zu verkaufen. In Deutschland wurden dagegen Handschriftenbestände während des Dreißigjährigen Krieges oder im Zweiten Weltkrieg stark dezimiert. Solche Lücken muss man sich stets auch vergegenwärtigen, weil sie eine historische Verzerrung darstellen. Mit manuscripta.at wollen wird das über die Jahrhunderte überdauerte handschriftliche mittelalterliche Erbe Österreichs weithin sichtbar machen. Wir vernetzen uns mit ähnlichen Projekten in anderen Ländern, um die Verfügbarkeit dieser wertvollen Ressourcen für ForscherInnen stetig weiter zu verbessern. 

 

AUF EINEN BLICK 

manuscripta.at