03.11.2023 | Tuppy Lecture

Wenn das Hirn Bettruhe verordnet

Soziales Verhalten hat viele Facetten, das meiste davon geschieht unbewusst. Manche Verhaltensmuster folgen uralten evolutionären Strategien, etwa als Reaktion auf eine Infektionskrankheit. Deren Ursprünge untersucht die Neurobiologin Catherine Dulac an vermeintlich primitiven Nagetieren. Am 9. November hält sie eine Hans Tuppy Lecture von ÖAW und Universität Wien.

Eine ganze Reihe an Verhaltensweisen und Körperfunktionen bei Krankheit nicht direkt durch den Erreger ausgelöst, sondern durch das Gehirn reguliert, sagt die Biologin und Hirnforscherin Catherine Dulac. © Adobe Stock

Der Herbst ist da, die Tage werden immer kürzer und kälter, für viele Menschen bedeutet das: Schnupfenzeit. Wenn der Hals schmerzt, die Nase rinnt und die Lunge bellt, möchte man nicht aus dem Bett heraus, sehnt sich nach Wärme, Ruhe und einer heißen Tasse Tee. Lange hielt man das für eine unmittelbare Auswirkung der Infektion, die Viren und Bakterien zwingen einen zu dem bei Krankheit typischem Verhalten. Doch die aktuelle Hirnforschung lehrt uns eines Besseren, sagt Catherine Dulac, Neurobiologin an der Harvard University und am Howard Hughes Medical Institute.

Mit einer breiten Palette an bildgebenden Verfahren und molekularbiologischen Analysemethoden erforscht Dulac die Prozesse im Hirn, die das soziale Verhalten steuern und die sich bei einer Infektion mit einem Krankheitserreger ändern. Dabei ist sie auf neuronale Netze gestoßen, die ein ganzes Arsenal an Verhaltensweisen und Körperfunktionen steuern – bei Mäusen ebenso wie beim Menschen.

Strategien für die Abwehrkräfte

Warum beschäftigen Sie sich als Neurobiologin mit dem Verhalten bei Krankheit?

Catherine Dulac: In unserem Labor interessieren wir uns generell dafür, wie das Hirn soziales Verhalten reguliert. Und ein sehr auffälliges Verhalten ist jenes bei Krankheit: Wenn sich unsere Labormäuse mit einem Krankheitserreger infiziert haben, dann vermeiden sie unter anderem soziale Interaktionen. Wir wollten herausfinden, wie dieses Verhalten im Gehirn entsteht und wodurch es gesteuert wird, das war der Startpunkt für unser Projekt. Und es hat sich herausgestellt, dass eine ganze Reihe an Verhaltensweisen und Körperfunktionen bei Krankheit nicht direkt durch den Erreger ausgelöst, sondern durch das Gehirn reguliert werden.

Wenn sich unsere Labormäuse mit einem Krankheitserreger infiziert haben, dann vermeiden sie soziale Interaktionen.

Gilt das nur für ihre Labormäuse?

Dulac: Wir kennen das auch vom Menschen: Man hat keinen Hunger mehr, man sucht Wärme, man möchte sich nicht mehr bewegen, fühlt sich lethargisch, vermeidet Gesellschaft. Das sind alles sogenannte „sickness behaviours“, die man bei sehr vielen Spezies beobachtet hat, selbst bei Vögeln und sogar bei kaltblütigen Organismen. Und wenn man jetzt all diese verschiedenen Verhaltensweisen gemeinsam betrachtet, erkennt man, dass sie dem Organismus dabei helfen, den Krankheitserreger zu bekämpfen. Wärme ist schlecht für den Erreger und gut für das Immunsystem, Lethargie ermöglicht einem, seine Energie auf die Abwehrkräfte zu fokussieren, Vermeidung von Gesellschaft verhindert die Ausbreitung. Und viele dieser Symptome sind keine direkte körperliche Reaktion auf den Erreger, sondern werden vom Gehirn organisiert. Und genau das wollen wir verstehen: Welche Neuronen sind hierfür verantwortlich? Wo befinden sie sich? Und wie können sie diese komplexen Verhaltensänderungen auslösen?

Einflussreiche Schaltkreise

Es gibt also eigene neuronale Schaltkreise, die speziell für das Verhalten bei einer Erkrankung zuständig sind?

Dulac: Absolut, das war für uns auch eine Überraschung. Wenn man die neuronale Aktivierung während einer Erkrankung beobachtet, erkennt man, dass es da tatsächlich spezifische Populationen an Neuronen im Gehirn gibt, die aktiviert sind. Und eine davon, die wir entdeckt haben, ist besonders interessant: Sie liegt sehr nahe an der Blut-Hirn-Schranke, wo das Gehirn mit dem Blutkreislauf und damit dem restlichen Körper kommuniziert. Hier sitzen spezielle Rezeptoren, die Moleküle des Immunsystems wahrnehmen und dann die Neuronen aktivieren. Und diese Neuronen sind dann wiederum mit verschiedensten Hirnregionen verbunden, die etwa für die Körpertemperatur zuständig sind, oder für den Appetit.

Der Hippothalamus gehört zu den evolutionär sehr alten Hirnregionen. Und genau dort finden sich auch die Neuronen für die „sickness behaviours“.

Und auch für das Sozialverhalten? Kann man das wirklich an Mäusen erforschen und dann mit dem Menschen vergleichen?

Dulac: Nun es gibt verschiedene Betrachtungsweisen von sozialem Verhalten. Wenn man an einen Menschen denkt, der in eine Bar geht und einen großartigen Abend hat, mit anderen trinkt und sich über sein Leben, seine Träume und dergleichen unterhält – so etwas machen Mäuse natürlich nicht. Aber wenn man zum Beispiel an eine Maus denkt, die zum ersten Mal Junge bekommen hat: Plötzlich gibt es da diese kleinen pinken Dinger, die schreien und viel Aufmerksamkeit brauchen. Irgendetwas in ihrem Hirn sagt der Mäusemutter, dass sie sich um sie kümmern muss. Wir haben herausgefunden, dass dieser elterliche Antrieb spezifisch im Hippothalamus reguliert wird, in evolutionär sehr alten Hirnregionen. Und genau dort finden sich auch die Neuronen für die „sickness behaviours“. Und soweit ich weiß hat man bisher alle Neuronengruppen im Hippothalamus, denen man in Mäusen eine bestimmte Funktion zuordnen kann, auch beim Menschen gefunden.

Kontakte statt Kokain

Sind diese Verhaltensweisen also angeboren und nicht erlernt?

Dulac: Die strikte Trennung in angeboren und erlernt ist etwas überholt. So wie wir das Gehirn heute verstehen bekommt man eine gewisse Grundstruktur für Verhalten vererbt, die aber durch die erlernten Erfahrungen ausgekleidet wird. Meist gibt es dafür auch spezielle prägende Phasen, für das Sozialverhalten ebenso wie etwa für das Sehen. Wenn man nicht in einer kritischen Entwicklungsphase die neuronale Verbindung zwischen dem physischen Sehen und der visuellen Erfahrung knüpft, dann ist man blind, obwohl die Augen und das Hirn eigentlich einwandfrei funktionieren.

Während der Corona-Pandemie haben wir Neuronen gefunden, die dafür zuständig sind, dass es Mäusen schlecht geht, wenn sie sozial isoliert sind.

Hat ihre Arbeit auch Anwendungspotential, oder handelt es sich dabei um reine Grundlagenforschung?

Dulac: Ich sehe mich als reine Grundlagenforscherin. Ich möchte wissen, wie das Gehirn funktioniert. Und am meisten interessiert mich dabei die neurobiologische Grundlage des Sozialverhaltens, einerseits, weil es uns letztlich als Menschen definiert. Aber auch in anderen Spezies gehört es zu den wichtigsten Aspekten des Lebens. Wenn man Ratten die Wahl zwischen Kokain und sozialen Kontakten gibt, wählen sie die Kontakte. Während der Corona-Pandemie haben wir Neuronen gefunden, die dafür zuständig sind, dass es Mäusen schlecht geht, wenn sie sozial isoliert sind. Und andere, die feuern, wenn sie wieder in Gesellschaft sind. Ich weiß nicht, ob sich aus unseren Erkenntnissen eines Tages medizinische Anwendungen ergeben könnten – das ist gut möglich, aber wir betreiben keine klinische Forschung. Unser Interesse gilt der Funktionsweise des Gehirns.

© Harvard College

 

AUF EINEN BLICK

Catherine Dulac ist Biologin und Samuel W. Morris University Professor an der US-amerikanischen Harvard University sowie Howard Hughes Medical Institute Investigator. 2021 erhielt sie den Breakthrough Prize in Life Sciences.

Am 9. November um 18 Uhr hält Catherine Dulac eine Hans Tuppy-Lecture an der ÖAW in Wien mit dem Titel „Neurobiolgy of Social and Sickness Behaviors“. Der Eintritt ist frei.

Zur Anmeldung

 

Die Hans Tuppy-Lectures sind eine gemeinsam von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien ins Leben gerufene Vortragsreihe, bei der Wissenschaftler/innen zu Wort kommen, die einen bahnbrechenden Beitrag auf dem Gebiet der Biochemie oder Molekularbiologie geleistet haben.