19.03.2024 | Forschungsschwerpunkt

Wo Antisemitismus beginnt

Seit der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten registriert die Israelitische Kultusgemeinde in Wien einen explosionsartigen Anstieg antisemitischer Vorfälle in Österreich. Der ÖAW-Historiker Gerald Lamprecht ordnet diese Entwicklung im Gespräch ein.

Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. © AdobeStock

In Österreich haben antisemitische Vorfälle dramatisch zugenommen. Das geht aus dem kürzlich vorgestellten Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der Israelischen Kultusgemeinde in Wien (IKG) hervor. Der explosionsartige Anstieg im Vorjahr setzt ab dem 7. Oktober ein, jenem Tag an dem in Israel das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der NS-Zeit verübt wurde. Waren es im September noch 24 Vorfälle, die gemeldet wurden, schnellten diese im Oktober auf 200 hinauf, in den folgenden Monaten November und Dezember wurden 226 und 294 Vorfälle verzeichnet.

Warum Konflikte im Nahen Osten mit einem Anstieg des Antisemitismus in Österreich und weltweit einhergehen, unabhängig von ideologischen Ausrichtungen, darüber spricht der Historiker Gerald Lamprecht, Leiter des Forschungsschwerpunkts Antisemitismus am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Interview.

Antisemitismus als Herausforderung

Laut aktuellem Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) ist in Österreich die Anzahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle von 2022 auf 2023 um 59,9 Prozent angestiegen. Im Bericht wird betont, dass es keine gesamthafte Darstellung des Antisemitismus in Österreich ist, sondern nur die gemeldeten Fälle abbildet. Wie ordnen Sie die Zahlen ein?

Gerald Lamprecht: Der Bericht der IKG gießt in Zahlen, was sich in den Beobachtungen seit dem 7. Oktober angedeutet hat: sowohl die Berichte aus der jüdischen Gemeinde, als auch die Beobachtungen im Social Media Bereich haben gezeigt, dass es nach dem 7. Oktober zu einem massiven Anstieg des Antisemitismus gekommen ist.

Wie auch im Bericht klar dargestellt, geht es hier darum, dass Menschen antisemitische Vorfälle melden. Zusätzlich zur wichtigen Arbeit der Meldestelle braucht es ein breit gefasstes sozialwissenschaftliches Monitoring des Antisemitismus. Antisemitismus aufzuzeigen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Kritik an der aktuellen Politik des israelischen Staates ist per se nicht antisemitisch.

Im Bericht der Meldestelle steht auch, dass eine kritische Haltung gegenüber Israel im Krieg gegen Gaza noch kein Antisemitismus ist. Gleichzeitig verbirgt sich hinter Israelkritik häufig genug Antisemitismus. Ab wann wird es antisemitisch?

Lamprecht: Kritik an der aktuellen Politik des israelischen Staates ist per se nicht antisemitisch. Antisemitisch wird es dann, wenn Israel dämonisiert, delegitimiert und doppelte Standards angewandt werden. Etwa, wenn behauptet wird, Israel sei für alles verantwortlich und der einzige Aggressor. Oder, wenn dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen wird. Das geht meist einher mit Auslöschungsfantasien, also der Vertreibung und Vernichtung von Juden und Jüdinnen. Antisemitisch wird es auch, wenn von Israel ein anderes staatliches Handeln erwartet wird als von den anderen Staaten. Das betrifft hier konkret die Frage des Selbstverteidigungsrechts. Es ist das Recht jeden Staates, der angegriffen wird, dass er sich verteidigt und entsprechend darauf reagiert. Klarerweise hat das im Rahmen des Regelwerks des Völkerrechts zu passieren.

Der Antisemitismus ist historisch und kulturell tief verwurzelt in der österreichischen Geschichte – und er war nie weg.

Was sagen Sie zur These des „importierten“ Antisemitismus?

Lamprecht: Zuallererst zur Begrifflichkeit: Das Sprechen vom „importierten“ Antisemitismus, suggeriert, dass es keinen „autochthonen“ Antisemitismus geben würde – und das stimmt nicht. Der Antisemitismus ist historisch und kulturell tief verwurzelt in der österreichischen Geschichte – und er war nie weg. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch einen neuen Antisemitismus gibt, der aus Teilen der Bevölkerung mit muslimisch-arabischen Hintergrund kommt. Davon berichtet auch die Studie. Hier gibt es eine Detailauswertung zum ideologischen Hintergrund, wonach zirka 25 Prozent der antisemitischen Vorfälle aus dem muslimischen Bereich kommen. Der größte Anteil kommt mit 34 Prozent aus dem rechtsextremen Spektrum. 18 Prozent sind ideologisch dem linken Antisemitismus zuzuordnen.

Antisemitismus zwischen Links und Rechts

Vor antisemitischen Denkformen und Ressentiments ist man also auch im politisch linken Spektrum nicht gefeit?

Lamprecht: Der Bericht weist darauf hin, dass der Kontext des Nahostkonflikts ganz eigenartige widersprüchliche Allianzen erzeugt. Antisemitismus ist hier das Bindeglied zwischen Gruppierungen, die eigentlich von ihren Ideen und Zielsetzungen ganz weit voneinander getrennt sind. Etwa, wenn queere Gruppen sich mit Sympathisant:innen der Hamas verbünden, die alles mögliche sein mag, aber sicherlich in keinerlei Hinsicht für die Gleichstellung von queeren Menschen eintritt.

Ist das auch ein Wesensmerkmal des Antisemitismus, dass er so vielfältig einsetzbar ist?

Lamprecht: Antisemitismus ist tatsächlich universell einsetzbar. Erinnern wir uns an die Covid-Pandemie zurück, wie scheinbar problemlos antisemitische Denkfiguren und Erzählungen adaptiert wurden, um in der komplexen Pandemiesituation einfache Erklärungsmuster anzubieten.

Das kann man auch historisch im 20. Jahrhundert immer wieder beobachten. Ein Beispiel: Gegen Ende des Ersten Weltkrieges werden in gemischtsprachigen Ländern Österreichs sogenannte deutsche Volkstage abgehalten, wo sich prononcierte Deutschnationale, Sozialdemokraten und Christlichsoziale treffen, die ideologisch sehr weit voneinander stehen, im Antisemitismus aber eins sind.

Erinnerungspolitik ist ein wichtiger Aspekt der Prävention.

Was kann eine antisemitischkritische Bildungsarbeit leisten?

Lamprecht: Im Antisemitismusbericht des Österreichischen Nationalrates von 2020 wurde die Frage gestellt, wie die Beziehung zwischen antisemitischen Einstellungen und der Einstellung zur Erinnerungskultur ist. Laut dieser Erhebung zeigt sich, dass jene die eine positive Einstellung gegenüber einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit haben, weniger anfällig für Antisemitismus sind. Es gibt eine ganz enge Korrelation zwischen einer kritischen Erinnerungskultur und einer geringeren Anfälligkeit für antisemitische Erzählungen. Erinnerungspolitik ist also ein wichtiger Aspekt der Prävention.

Wesentlich ist aber auch zu erkennen, dass Antisemitismus nicht nur ein schulisches Bildungsproblem ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Nur bei den Jugendlichen anzusetzen, scheint mir zu kurz zu greifen.

Forschung spielt zentrale Rolle

Was kann die Wissenschaft dem explosionsartigen Anstieg des Antisemitismus entgegensetzen?

Lamprecht: Aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist es ganz zentral, den Antisemitismus als solchen zu erforschen und zu benennen. Dazu braucht es auch ein breites Monitoring, etwa im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Parlamentsstudie. In welchen Kontexten tritt Antisemitismus in Erscheinung und welche gesellschaftlichen Funktionen übernimmt er? Davon abgeleitet werden Strategien entwickelt, was die Abwehr betrifft.

 

Auf einen Blick

Gerald Lamprecht ist Historiker und leitet das Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz, sowie den Forschungsschwerpunkt zu Antisemitismus am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er beschäftigt sich mit Jüdischer Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, der Gedächtnisgeschichte und der Geschichte des Antisemitismus.

Der Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der IKG:

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